Das integrale Bewusstsein nach Jean Gebser

Wiener Schule für Bewusstsein 

Das integrale Bewusstsein nach Jean Gebser

 

Jean Gebser [1] geht von der Grundannahme aus, dass sich vier Bewusstseinsstrukturen nachweisen lassen, die den heutigen Menschen konstituieren und die in der Kulturgeschichte der Menschheit aufeinanderfolgend in Erscheinung traten. Er nennt die Bewusstseinsstrukturen die archaische, die magische, die mythische und die mentale Struktur. Keine dieser Strukturen ist besser oder höher als eine der anderen. Sie sind einfach grundlegend anders. Alle Bewusstseinsstrukturen sind jedoch auch heute noch in jedem Menschen als unterschiedlich ausgeprägt wirkende Anlage vorhanden.

In jeder Bewusstseinsstruktur geschehen im Laufe der Zeit sprunghafte, diskontinuierliche und disruptive Wandlungen der Bewusstseinsstrukturen. Sobald eine Struktur sich defizient und damit destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere Bewusstseinsstruktur zum Durchbruch, die keine kontinuierliche Fortführung der alten Struktur, sondern etwas vollkommen Neues ist.

Jede Struktur entdeckt eine Seins-Dimension neu und ist mit einer bestimmten Sicht auf die Welt und einer spezifischen inneren Haltung verbunden, mit der wir die dazugehörige Wirklichkeit und unser Handeln in der Welt bestimmen.

Heute befinden wir uns in einem Zeitalter großer Transformationen. Diese führen – nach Gebser – letztlich zum Durchbruch einer neuen Bewusstseinsstruktur: das integrale Bewusstsein [2]. Das Besondere an der neuen Bewusstseinsstruktur ist, dass alle vorhergehenden Bewusstseinsstrukturen gleichzeitig sichtbar werden. Dadurch wird der Ursprung (des Lebens) in der Gegenwart sichtbar. Deshalb nennt Gebser dieses Bewusstsein auch “diaphanes (durchscheinendes) Bewusstsein”. Die integrale Bewusstseinsstruktur entdeckt die vierte Dimension: die Zeit. Damit werden die unterschiedlichen Zeitverständnisse der verschiedenen Bewusstseinsstrukturen bewusst und sichtbar, wie die Zeitlosigkeit, Naturzeit oder gemessene Uhrenzeit. Indem wir über die verschiedenen Zeitformen verfügen können, befreien wir uns von ihnen. “…Dies stellt uns in die Zeitfreiheit, in die bewusst realisierte und immer gegenwärtige Ursprungsnähe.”

Gebser sieht in der integralen Bewusstseinsstruktur die Möglichkeit, nicht nur die Zeit

bewusst zu überwinden, sondern auch den Raum. „Es heißt keinesfalls, dass Raum und Zeit abgeschafft werden sollen, wohl aber, dass wir uns bis zu einem gewissen Grad von beiden zu befreien haben“, die sogenannte RaumZeit-Freiheit.

Weitere Charakteristika des integralen Bewusstseins sind: es ist a-logisch und a-perspektivisch und birgt ein Nicht-Ich, das die heutige defiziente Dominanz des mentalen Ichs transzendiert.

Dieses integrale Bewusstsein führt laut Gebser – im Gegensatz zu der in der westlichen Welt gerade vorherrschenden mentalen-rationalen Bewusstseinsstruktur und ihrer dualistischen Subjekt-Objekt-Spaltung – zu einem neuen Miteinander und zu einer bewussten Teilhabe des Einzelnen am Weltganzen.

 

Gebser selbst zeigte keinen „Weg“ zu diesem neuen integralen Bewusstsein,
dessen Keime er vorfand, doch schien es ihm zumindest notwendig,
sich der immer noch wirksamen früheren Strukturen jederzeit bewusst
zu werden: Immer noch sind wir magisch ansprechbar, können uns
mythische Bilder verführen und uns die Klarheit des Denkens vergessen
lassen.

Die Wiener Schule für Bewusstsein hat das integrale Bewusstsein zu einer ihrer wichtigsten Leitlinien gewählt. Als Lern-, Lehr- und Praxisraum für transpersonales und integrales Bewusstsein sehen wir unsere zentrale Aufgabe darin, vielfältigste Wege zur Verwirklichung des integralen Bewusstseins zu erforschen, praktisch zu erproben und den Besuchern und Besucherinnen der Wiener Schule für Bewusstsein in verschiedensten Formaten nahezubringen und zu vermitteln – und gemeinsam weiter zu lernen.

Insofern versteht sich die Wiener Schule für Bewusstsein als eine „Universitas“ im ursprünglichen Wortsinn: als eine Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden zur gemeinsamen Teilhabe am Werk „Menschheit“.


[1] Jean Gebser ( * 1905, + 1973) war ein Schweitzer Philosoph, Schriftsteller und Übersetzer. Als Vertreter der integralen Theorie strebte er danach, wissenschaftliche und geistig-spirituelle Erkenntnisse zu verbinden. In diesem Kontext gilt er neben Carl Gustav Jung als einer der beiden Pioniere einer kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstseinsforschung, die ein Strukturmodell der Bewusstseinsgeschichte des Menschen etabliert haben.

[2] In diesem Text werden Auszüge verwendet aus Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, 1. und 2.Teil, 2015, Chronos Verlag Zürich

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert